DIE WOCHE, Wissenschaft & Forschung, 01.04.1999 [kein Aprilscherz!]

Vorsicht, Vitamine!

Neue Studien zeigen: Schon wenige Vitaminpillen pro Tag können Schaden anrichten. Ob sie vor Krankheit schützen, ist wissenschaftlich nicht bewiesen.

VON GABRIELE NEUHÄUSER

Gerd Glaeske ist ein Freund griffiger Wortschöpfungen. Der Autor populärer Gesundheitsratgeber ("Bittere Naturmedizin" u.v.m.) leitet im Hauptberuf die Abteilung für medizinisch-wissenschaftliche Grundsatzfragen der Barmer Ersatzkasse - und schimpft über die "Vitamanie". Als routinierter Pharma-Kritiker sagt er: "Der Mythos muß ausgeräumt werden" - daß Vitamine als rundum "positive, nebenwirkungsfreie Substanzen" betrachtet werden.
Die Meldungen der jüngsten Zeit geben ihm Recht. Mehrere, voneinander unabhängige Studien haben nachgewiesen: Vitamine sind keineswegs so harmlos, daß man beliebig viel davon konsumieren dürfte. Selbst für das vor allem bei Erkältungen so beliebte Vitamin C wurden schädliche Wirkungen entdeckt - bei verzehrten Mengen, die sich schon mit rezeptfreien Pillen und angereicherten Säften erreichen lassen. Die von ihm kritisierte "Vitamanie", so Glaeske, beruhe auf einem "kardinalen Denkfehler": Aus der Erkenntnis, daß eine vitaminreiche Ernährung mit viel Obst und Gemüse die Gesundheit fördern kann, wurde prompt gefolgert, daß große Mengen einzelner, aus Lebensmitteln isolierter Vitamine megagesund seien. Das sei aber noch in keinem klinischen Versuch nachgewiesen worden. Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer, der ein unabhängiges ernährungswissenschaftliches Forschungsinstitut betreibt, bemängelt, daß es keine verläßlichen Angaben darüber gibt, wie hoch der Tagesbedarf an Vitaminen wirklich ist.
Auch nicht, wieviel einzelne Lebensmittel tatsächlich enthalten.

Klar ist nur: Vitamine sind organische Nahrungsbestandteile ohne Nährwert, die - ähnlich wie die anorganischen Mineralstoffe - regelmäßig aufgenommen werden müssen, weil sie jeweils bestimmte Stoffwechselvorgänge als Katalysatoren begünstigen, manchmal sogar nur von Millionstel Gramm pro Tag auf Dauer unterschritten, dann kommt es zu Mangelerkrankungen wie etwa Skorbut.

Die Angst vor einer Vitamin-Unterversorgung ist bei der heutigen Ernährungsweise weitgehend unbegründet. Dennoch entstanden 1998 daraus 1,14 Milliarden Mark (583 Mio. Euro) Umsatz für Apotheken, Drogerien und Verbrauchermärkte - durch den Verkauf von rezeptfreien Vitaminpräparaten und vitaminisierten Lebensmitteln. Das sind 143 Millionen Mark (73 Mio. Euro) mehr als im Vorjahr. Inzwischen raten Nahrungsexperten wie Anke Rottinghaus vom Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) oder Günther Wolfram nicht mehr pauschal zu "viel hilft viel". Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) weiß: Die Dosis macht es, ob eine Substanz als Heilmittel oder Gift wirkt. Wann bei Vitaminen jedoch der Effekt umschlägt, das ist im Einzelfall strittig.

Alarmierend wirkten die Untersuchungen amerikanischer Forscher, die freiwilligen Versuchspersonen sechs Wochen lang täglich 500 Milligramm Vitamin C gaben. Erstaunt stellten sie fest, daß sich am Ende die Zusammensetzung des Erbmoleküls DNS verändert hatte. Die Studie sagt nichts darüber aus, ob die Teilnehmer krank wurden oder ob überhaupt ein Schaden von der Veränderung ausgeht.
Doch gibt vor allem die niedrige Versuchsdosis Anlaß zur Sorge. Immerhin empfiehlt die DGE eine tägliche Aufnahme von 75 Milligramm Vitamin C. Wer sich also zum üblich gesunden Essen noch eine Vitamin-C-Brausetablette mit 225 Milligramm und eine Flasche Multivitaminsaft gönnt, die weitere rund 200 Milligramm Vitamin C beisteuert, hat dieses halbe Gramm erreicht.

Auch Beta-Carotin geriet in Verruf: Es galt bislang als krebsvorbeugende Substanz, die sogenannte freie Radikale neutralisiert. Das sind biochemisch aggressive Moleküle, die Zellen schädigen können, wodurch dann unter Umständen Krebs entsteht. Auch die Vitamine A, C und E bremsen diese schädlichen Effekte, weil sie diese Reaktionen abpuffern können. Genau diese Wirkung wollten finnische Forscher am Beispiel von Rauchern untersuchen.
Ihre Versuchspersonen erhielten täglich 20 Milligramm Beta-Carotin - das Zehnfache der Tagesempfehlung. Zum Schrecken der Forscher erhöhte sich das Krebsrisiko der Testpersonen um 16 Prozent. Das Ergebnis einer amerikanischen Studie war noch alarmierender: Sie hatte untersucht, wie sich 30 Milligramm Beta-Carotin täglich bei Rauchern und Arbeitern, die Asbeststäuben ausgesetzt waren, auswirken. Das Risiko dieser Versuchspersonen, einen Lungentumor auszubilden, lag um 28 Prozent über dem der Vergleichsgruppe, die nur ein Scheinmedikament erhielt. Dieser Befund schreckte sogar Behörden auf. Das BgVV empfiehlt Rauchern, auf Präparate, Lebensmittel oder Getränke zu verzichten, die zugesetztes Beta-Carotin enthalten.

Bei einer dritten Studie wurde entdeckt, daß Vitamin B6 Empfindungsnerven schädigt: Frauen, die große Mengen davon gegen Menstruationsbeschwerden bekamen, litten unter Taubheitsgefühlen in Händen und Füßen.

Gegenüber den Vitaminen A und D empfehlen die Ernährungswissenschaftler schon länger Zurückhaltung. Diese "fettlöslichen" Substanzen werden im Körper gespeichert und können sich daher schneller anreichern. Bei Föten führt Vitamin A in hohen Dosen zu Mißbildungen. Schwangeren wird deshalb abgeraten, Leber zu essen, die viel von diesem Vitamin enthält.

Vitamin D benötigt der Organismus, um das für den Knochenaufbau wichtige Kalzium aus dem Darm ins Blut aufzunehmen. Wird eine bestimmte Menge überschritten, kehrt sich dieser Effekt jedoch ins Gegenteil um: Kalzium wird aus den Knochen mobilisiert, der Körper überschwemmt. Folgen dieser sogenannten Hypercalcämie können Herzrhythmusstörungen oder Nierensteine sein.

Beide Vitamine dürfen in hohen Dosen nur auf Rezept verabreicht werden. Sie unterliegen auch sonst strengeren Bestimmungen als die restlichen zwölf: Nach deutschem Recht gelten diejenigen Vitaminpräparate als Medikamente, die mehr als die dreifache DGE-Empfehlung für eine Substanz enthalten. Sie dürfen nur in Apotheken verkauft werden. Die Vitamine A und D rangieren schon als Medikamente, sobald sie die einfache Tagesmenge überschreiten.

Die DGE-Empfehlungen sind allerdings umstritten. Die akkuraten Tabellen etwa über den Vitaminbedarf täuschten eine Präzision vor, kritisiert Lebensmittelchemiker Udo Pollmer, die einer näheren Betrachtung nicht standhalte. Da werde geschätzt und aufgerundet, ohne daß es eine Grundlage dafür gebe. Kaum anders sieht das der Pharmakologe Christian Steffen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: "Es wird sehr viel spekuliert. Wir haben gewisse Konventionen, die sagen: Das ist der Tagesbedarf. Aber harte wissenschaftliche Fakten haben wir nicht."

Einig sind sich die Ernährungsexperten nur darüber, daß die etwa 5.000 bis 10.000 bekannten Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln so komplex zusammenwirken, daß kein noch so raffiniertes Multivitaminpräparat ähnliche Effekte erzielen kann.Auch die Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper sind so fein austariert, daß kaum ein Nutzen erwartet werden darf, wenn man bestimmte Substanzen hundert- oder gar tausendfach überdosiert. Schon die Aufnahme ins Blut macht da Schwierigkeiten, nur selten schaffen es die Vitaminfluten bis ins Gewebe. Für die Abläufe in den Zellen gilt schließlich der Grundsatz: "Ein zuviel an Katalysatoren nützt nichts für die Reaktionsprozesse."

Das, so räumt man sogar bei der Pharmafirma Hoffmann-La Roche ein, wisse jeder, der mit Chemie zu tun habe. Und Hoffmann-La Roche ist einer der größten Hersteller synthetischer Vitamine.

© 1993-1996 Die Woche

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