Wieviel Säure verträgt der Mensch?

von Hans Krautstein

Störungen im Säure-Basen-Haushalt spielen nach Meinung von Naturheilkundlern bei der Entstehung von chronischen Krankheiten eine zentrale Rolle. Als eine der Hauptursachen gilt falsche Ernährung. Schulmediziner bestreiten den Zusammenhang und lehnen die Übersäuerungs-Theorie eher ab.

Der Volksmund irrt: Sauer macht nicht lustig, sondern krank. Den Wald ebenso wie den Menschen. Ganzheitsmediziner ziehen häufig diese Parallele. Während die Bäume draußen lautlos vor sich hin sterben, scheinen sich im Innern unseres Körpers ähnliche Säurekatastrophen abzuspielen. Bei der Mehrzahl der Bundesbürger, so heißt es, sei das Säure-Basen-Gleichgewicht gestört. Zahlreiche chronische Leiden werden neben anderen Ursachen auf Übersäuerung zurückgeführt. Schulmediziner bezweifeln diese Theorie. In den meisten Fällen sei der menschliche Organismus durch die körpereigenen Puffersysteme (Regulationsmechanismen, die Säure- bzw. Basenüberschüsse kompensieren) vor einer Übersäuerung geschützt.

An der grundsätzlichen Bedeutung des Säure-Basen-Haushalts ändert diese Kontrovere jedoch nichts. Säuren sind chemische Verbindungen, die in wässriger Lösung positiv geladene Wasserstoff-Ionen abspalten, während ihre Gegenspieler, die Basen, negativ geladene Hydroxid-Ionen freisetzen. Säurebildende Elemente sind Chlor, Phosphor und Schwefel, basenbildend wirken Natrium, Kalium, Calcium und Magnesium. Der Säuregrad einer Flüssigkeit wird durch den pH-Wert bestimmt, der theoretisch zwischen 0 (extrem sauer) und 14 (extrem basisch oder alkalisch) liegen kann.

Die meisten Lebensvorgänge in unserem Organismus funktionieren am besten in neutralem oder leicht basischem Milieu. Ausnahmen sind der Säureschutzmantel der Haut, der Krankheitserreger abwehren soll, und die Salzsäure im Magen, die die Eiweißverdauung einleitet und mit der Nahrung aufgenommene Bakterien in Schach hält. Neutral ist ein pH-Wert von 7, niedrigere Werte tendieren zum Sauren, höhere zum Basischen hin. In Darm und Bauchspeicheldrüse findet man pH-Werte um 8,0, ebenfalls schwach alkalisch sind die Leber- und Gallensekrete (7,1), der Speichel (7,0 bis 7,1) und das Bindegewebe (7,08 - 7,29). Während sich der Harn (4,8 bis 8,0) mehrmals am Tage zwischen sauer und basisch hin- und herbewegt, dominiert im Magensaft (1,2 - 3,0) eindeutig die Säure.

Die wichtigste Körperflüssigkeit, das Blut, hat einen relativ konstanten pH-Wert von 7,4, der nur im Extremfall zwischen 7,3 und 7,8 schwanken kann. Bereits ein Absinken auf den Neutralwert 7,0 oder ein Anstieg auf mehr als 7,8 würde sich tödlich auswirken. Bedrohliche pH-Wert-Verschiebungen kommen im Blut allerdings selten vor. Eine klinisch relevante Azidose (erniedrigter pH-Wert) kann auftreten bei Diabetes und schweren Nierenerkrankungen, eine Alkalose (erhöhter ph-Wert) bei unstillbarem Erbrechen, Hyperventilation und Schock oder als Gegenreaktion auf den Basenmangel bei konsumierenden Erkrankungen wie Krebs.

Auch der gesunde Körper ist ständig mit Säuren konfrontiert. So bildet er selbst Kohlensäure bei der Zellatmung sowie Amino-, Fett- und Ketonsäuren bei der Verstoffwechslung der Nahrung. Für die Neutralisation und Ausscheidung säurereicher Speisen werden zum Ausgleich basische Substanzen benötigt. Dies gilt besonders für tierisches Protein, Alkoholika, Fett, Zucker und Weißmehl. Neben psychischen Ursachen wie Streß, Angst und Depression verschieben auch Bewegungsmangel und Krankheiten der Verdauungsorgane auf Dauer die Säure-Basen-Balance. Solange die Nieren einwandfrei arbeiten und die Säure-Ausscheidung über die Atmung, den Darm und die Haut funktioniert, kann der Mensch durchaus mit einer vorübergehenden Säureflut fertigwerden.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) geht davon aus, daß "beim gesunden jungen Erwachsenen die Regulationssysteme des Säure-Basen-Haushalts auch bei einseitiger Ernährung in der Lage sind, Säure- bzw. Basenüberschüsse zu kompensieren und auszuscheiden." Nur im Alter, wenn die Säureausscheidungskapazität der Nieren nachlasse, und beim Hochleistungssport unter physiologischen Extrembedingungen gelte diese Bewertung "nicht uneingeschränkt". Normalerweise, so die DGE weiter, sei eine Einteilung der Lebensmittel nach ihrer sauren oder basischen Wirkung "überflüssig". Trotzdem empfiehlt die DGE eine "abwechslungsreiche Vollwertkost mit hohem Getreide-, Kartoffel-, Gemüse- und Obstanteil und einem mäßigen Verzehr von proteinreichen Lebensmitteln", um die Säurebelastung der Niere niedrig zu halten.

Dr. Michael Worlitschek, Allgemeinmediziner und Arzt für Naturheilverfahren, sieht im jüngsten Statement der DGE "ein erstes Zeichen des Umschwenkens". Die Übersäuerung galt bisher in schulmedizinischen Fachkreisen nur als Randproblem. Glaubt man Worlitschek, so wird das Thema allmählich salonfähig. Die "latente Azidose", die Friedrich Sander, ein Pionier der Säure-Basen-Forschung, schon 1953 beschrieb, ist nach Meinung Worlitscheks weit verbreitet. In diesem Stadium einer krankhaften Entwicklung seien die basischen Pufferreserven im Blut teilweise verbraucht, ohne daß es schon zu einer meßbaren Veränderung des pH-Wertes gekommen wäre. Vermehrte Säureaufnahme durch die Nahrung und verminderte Basenzufuhr durch Entmineralisierung der Böden trügen zur Entstehung eines Ungleichgewichts bei. "Früher wurde überschüssige Säure durch körperliche Arbeit ausgeschwitzt", so Worlitschek, heute sei die Säureausscheidung infolge der wachsenden Bewegungsarmut "deutlich gemindert".

"Der Mensch ist keine Fichte", schreibt der Fachjournalist Norbert Treutwein. Er könne die überflüssigen Säuren nicht in seinen Nadeln lagern und diese später abstoßen. Während viele Umweltschadstoffe im Fettgewebe oder in Haaren und Nägeln "parkten", diene bei den Säuren das Bindegewebe als Zwischenmülldeponie. Jedesmal, wenn wir basenbildende Mineralstoffe aufnehmen, Sport treiben oder viel Trinken, könne sich das Bindegewebe zwar von einem Teil der Altlasten befreien. Wer sein Leben aber nur im Liegestuhl verbringt, ständig zu üppig ißt und sich mit säurebildenden Genußgiften vollstopft - dazu zählen auch Kaffee und Zigaretten -, bringe die Speicher irgendwann zum Überlaufen. Die mobilisierten Gifte beginnen im Körper zu wandern und setzen sich mit Vorliebe an den Gelenken fest, wo sie Gichtanfälle, Arthritis und andere rheumatische Erkrankungen auslösen, so Treutwein.

Naturärzte raten: 80 Prozent der Nahrung sollte basenbildend sein.

Gallenblase, Bauchspeicheldrüse und Darmdrüsen haben immer einen hohen Bedarf an basischen Stoffen, die sie zur Bildung ihrer insgesamt fünf Liter Verdauungssäfte benötigen. Das enge Zusammenspiel von Säuren und Basen macht auch ein Blick auf die Tätigkeit des Magens deutlich. Der Magen produziert nicht nur täglich rund 2,5 Liter sauren Magensaft, sondern zur selben Zeit auch die mehr als doppelte Menge Natriumbicarbonat, eine basisch wirkende Verbindung aus Natrium, Wasserstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff. Sie entsteht in den Belegzellen des Magens bei der Aufspaltung von Kochsalz, von dem beständig ungefähr sechs Gramm im Blut kreisen. Natriumbicarbonat tritt über ins Blut und wird so im ganzen Körper verteilt. Es regelt die Verdauungsarbeit im Darm und erzeugt an vielen anderen Stellen eine Basenflut, die sauren Unrat aus dem Körper schwemmt. Später wird das Natriumbicarbonat wieder in den Darm zurückresorbiert und dort mit der Magensäure zu Kochsalz verbunden.

Streitpunkt: Werden chronische Erkrankungen durch latente Azidose verursacht?

Diesen Kochsalzkreislauf nehmen die meisten Ärzte nach Treutweins Einschätzung praktisch nicht zur Kenntnis. Wie anders wäre zu erklären, daß sie Patienten mit zu viel Magensäure lediglich "Säureblocker" verabreichen, die die Produktion von Salzsäure im Magen hemmen. Die Medikamente könnten zwar akute Schmerzzustände beseitigen und das Wachstum von Geschwüren stoppen, doch am krankhaften Geschehen änderten sie grundsätzlich nichts. Weil künstliche Säureblocker im Magen auch die Bildung lebenswichtiger Basen drosseln, werde so die Übersäuerung langfristig noch verstärkt.

Zuviel Säure überlastet nicht nur das Bindegewebe, sie hat auch negative Einflüsse auf das vegetative Nervensystem. Ein saures Milieu stimuliert den Sympathikus und versetzt den Körper auch dann in Erregung, wenn dafür kein erkennbarer Grund vorliegt. Die Überaktivität des Immunsystems, das etwa auf einfache Blütenpollen allergisch reagiert, ist für Naturheilkundler auch so zu erklären. Weil Säure die Verdauung und die Ausscheidung behindere, sei sie ein potentieller Krankmacher. Bei basischer Stoffwechsellage hingegen werde die Produktion des Gewebshormons Azetylcholin gesteigert und der Parasympathikus angeregt, was Entkrampfung und Entspannung bewirke.Unter Berufung auf Forschungsarbeiten von Ragnar Berg und Lothar Wendt empfiehlt Worlitschek, viermal soviel Basenspender wie Säurebildner zu essen, weil dies dem natürlichen Verhältnis der beiden Fraktionen im Körper entspreche. Einige Nahrungsmittel, die Säure bilden, wurden bereits genannt. Woran aber kann der Laie erkennen, was sauer macht und was alkalisch? Der Geschmack hilft nicht weiter, denn sauer schmeckende Zitronen oder Grapefruits sind wie die meisten Obst- und Gemüsesorten basenbildend, weil ihre organischen Säuren genügend Mineralstoffe enthalten, die die Säuren neutralisieren. Sauerkraut und Brottrunk werden ähnlich bewertet. Wer nur den pH-Wert der Nahrungsmittel mißt, gelangt daher zu falschen Schlüssen.

Bei der Einteilung der Lebensmittel gehen die Meinungen auseinander

Auch die Theorie, nach der Eiweiße säurebildend, Kohlenhydrate basenbildend und Fette weitgehend neutral sind, stimmt nur bedingt. Isolierte Kohlenhydrate und industriell veränderte Fette, die der Durchschnittsbürger in Massen konsumiert, leisten der Übersäuerung Vorschub. Dies tun nach Worlitscheks Angaben auch viele chemische Arzneimittel, zum Beispiel Salicylsäure, besser bekannt als "Aspirin". Synthetische Vitamine haben wahrscheinlich einen ähnlichen Effekt.

Manche Ernährungswissenschaftler ordnen die Nahrungsmittel nach ihrem Anteil an basischen oder sauren Salzen, der bei der Verbrennung in der Asche zurückbleibt. Dies allein reicht aber nicht aus, da auch eine Speise, die selbst kaum Säure enthält, bei ihrer Umwandlung im Stoffwechsel Säure bilden kann. Zu dieser Gruppe gehören Zucker, Weißmehl, Bohnenkaffee und Alkohol. Andere Erzeugnisse wie Fleisch, Eier (ausgenommen der Dotter) und Käse liefern zum einen saure Elemente wie Schwefel, Phosphor, Chlor, Jod oder Fluor und erzeugen zum anderen zusätzlich Säuren bei ihrer Verstoffwechslung. Der Makrobiotik-Lehrer Herman Aihara rät, sich bei der Einteilung der Lebensmittel am Verhältnis von Calcium (alkalisch) und Phosphor (sauer) zu orientieren. Aber auch diese Methode hat, wie Aihara zugibt, Schwächen. Umstritten ist seine Einordnung der fett- und eiweißhaltigen Sojabohne als säurebildend. Säure-Basen-Tabellen können nur eine grobe Orientierung bieten, zumal der Säure- und Basen-Gehalt eines Lebensmittels auch von Anbau, Düngung, Bodenqualität und nicht zuletzt von der Zubereitungsart abhängt. Im allgemeinen werden nicht nur Fleisch, Fisch, Zucker, Eier und gehärtete oder erhitzte Fette, sondern auch Milchprodukte, Hülsenfrüchte und Getreide als säuerebildend eingestuft. Bei Vollkorngetreide gehen die Meinungen auseinander. Da es viele basendbildende Mineralstoffe enthält, halten es einige Autoren für weniger bis gar nicht säurebildend. Während Nüsse als schwach säuernd gelten und Rohmilch als neutral, werden die meisten Obst- und Gemüsesorten, Pilze, Kartoffeln und Meeresalgen in der Regel zu den Basenbildnern gezählt. Uneinigkeit herrscht bei Kaffee und Tee. Die einen sehen beide wegen der darin enthaltenen Purine als säuernd an, für die anderen liegen zwischen den zwei Genußmitteln Welten. Norbert Treutwein führt die stark säuernde Wirkung des Kaffees primär auf die Röststoffe zurück. Der Tee besitzte diese nicht, dafür aber etliche Mineral- und Gerbstoffe (Tannine), die aus ihm einen kräftigen Basenbildner machten.

Für Michael Worlitschek ist die latente Azidose einer wachsenden Zahl von Menschen eine traurige Tatsache, die sich belegen läßt. Bei Tausenden von Patienten hat er mittels Blut- und Harnuntersuchungen eine Übersäuerung festgestellt und anschließend, wie er sagt, erfolgreich behandelt. Herkömmliche Blutuntersuchungen geben über den Zustand des Säure-Basen-Haushalts indes kaum Aufschluß. Für den Heilpraktiker Hans-Heinrich Jörgensen ist die entscheidende diagnostische Frage "nicht die nach dem pH-Wert, sondern die nach der Pufferkapazität des Blutes." Jörgensen hat ein entsprechendes Meßverfahren entwickelt, das auch Worlitschek anwendet. Es erlaubt, wie er sagt, einen wichtigen Rückschluß auf den Säurezustand innerhalb der Zelle.

Ein anderes Verfahren ist die Urinmessung nach Sander. Hierbei sammelt der Patient am Testtag fünf Harnproben im Abstand von drei Stunden. Aus den ermittelten Werten errechnet man den Aziditätsquotienten (AQ), der im Idealfall zwischen minus 10 und plus 10 liegen sollte. Morgens ist der Urin am sauersten, beim Gesunden zeigt die Meßkurve infolge der Basenfluten nach den Mahlzeiten charakteristische Zacken. Eine eher flache, am Ende nach unten abfallende Linie deutet auf Säurebelastung hin. Die Regulationsfähigkeit des Körpers ist dann bereits erschöpft. Diesen Test kann jeder auch zu Hause durchführen, wenngleich mit weniger exakten Resultaten als im professionellen Labor.

Zu einer wirksamen Entsäuerungstherapie gehören nach Worlitscheks Erfahrung eine ausgewogene Ernährung, seelische Entlastung, viel Bewegung und eventuell unterstützende Basenpräparate für eine bestimmte Zeit. Als ergänzende Maßnahmen können Darmsanierungen und Toxinausleitungen sinnvoll sein. Hartnäckige Beschwerden ließen sich so lindern und "scheinbar unheilbare Krankheitszustände" beheben. Mit einer Einmal-Kur scheint es aber nicht getan. "Entsäuerung muß lebenslang durchgeführt werden, sie soll gleichsam eine Lebenseinstellung sein. Der Mensch ist eine basische Pflanze: Sie wird klein und runzlig, wenn sie verkommt, also sauer wird, und sie kann wieder aufblühen, wenn sie gepflegt, also basisch wird."

Literatur zum Thema
Herman Aihara: Säuren & Basen, Verlag Mahajiva Wolfgang Christalle, Holthausen/ü. Münster 1992, 104 Seiten, DM 19,85.
Klaus-Jürgen Mielke: Droge Wohlstandskost - Chronisch krank durch Fehlernährung, Mielke Verlag, Hannover 1998, 503 Seiten, DM 29,80.
Norbert Treutwein: Übersäuerung - Krank ohne Grund?, Verlag Südwest, München 1996, 224 Seiten, DM 29,80.
Michael Worlitschek: Der Säure-Basen-Haushalt - Gesund durch Entsäuerung, Karl F. Haug Verlag, Heidelberg 1996, 105 Seiten, DM 19,80.
© verlag gesund essen gmbh 1999, erschienen in Schrot&Korn 9/99, S. 8 ff.

überreicht durch: Holger Lynen, Gesundheitstrainer, Hermeskeiler Straße 22, 50935 Köln, Tel: 0221-484-7022, www.besserdrauf.de
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