Die Welt, 15.01.2001

Bewegung hält die grauen Zellen auf Trab

Laufen entspannt und stärkt die geistige Ausdauer - ein idealer Ausgleich für Kopfarbeiter

Erschreckend hoch ist gleichzeitig die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen: 800 Menschen in Deutschland erleiden täglich einen Herzinfarkt, 2000 einen Schlaganfall. Zwei Drittel davon enden tödlich. Ursache ist meist eine Verfettung der Gefäße - ausgelöst durch mangelnde Bewegung und eine fettreiche Ernährung. Zusätzlich leiden gerade die gestressten Kopfarbeiter oft an Rückenproblemen, Schlafstörungen, nervösem Magen oder Übergewicht. Der Preis des Erfolges? Bestimmt nicht. "Aber Gesundheit lässt sich nicht bequem und passiv konsumieren und vom Arzt verordnen. Der Krankmacher Nummer eins hat einen Namen: Bewegungsmangel" erklärt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, Sportarzt und Autor von "So Schützen Sie Ihre Gesundheit" das Problem.

Dass die Notwendigkeit der Bewegung in unseren Genen liegt, will der bayrische Internist und Fitness-Guru Ullrich Strunz schon anhand kleiner Kinder bewiesen sehen: "Die rennen und hüpfen den ganzen Tag herum - bis zu zehn Kilometer täglich. Wenn Sie das nicht glauben, probieren Sie's selbst aus, und hängen Sie Ihrem Sprössling einen Kilometerzähler ums Handgelenk", rät der Mann, der "nichts erzählt, was er nicht schon selbst getestet hätte".

Ob's in den Genen liegt oder nicht: darüber, dass tägliche Bewegung gut tut, sind sich die Mediziner einig. Jogging beispielsweise baut nachweislich Stress und Spannungen ab, fördert Kreativität und Denkvermögen. Darüber hinaus werden beim Laufen fettverbrennende Enzyme gebildet, der Stoffwechsel-Grundumsatz wird erhöht. "Laufen ist die effektivste Möglichkeit, Fett zu verbrennen. Denn Fett verbrennt nur im Muskel - und beim Laufen sind 70 Prozent der Muskeln im Einsatz", erläutert Müller-Wohlfahrt. "Zusätzlich schüttet der Körper beim Laufen das Kreativitätshormon ACTH aus. Dieses Hormon ist unverzichtbar für Kopfarbeiter und außerdem die einzige uns bekannte Substanz, die in der Lage ist, Fettablagerungen zwischen den Gehirnzellen wieder abzulösen. Dadurch verbessert und beschleunigt sich unser Gedankenstrom", so Wohlfahrt.

"Das Gehirn wird beim Laufen sehr gut durchblutet. Dadurch werden Probleme im Job besser gelöst", bestätigt Karl Kilburg, Senior Vice President von Marriott International die positiven Wirkungen. Auch Jürgen Weber läuft gegen den täglichen Sitzmarathon im Büro an - denn Laufen entspannt nachweislich. "Durch Bewegung werden Stresshormone abgebaut", erläutert Müller-Wohlfahrt. "Ursprünglich sorgte die Natur dafür, dass der Reiz Stresshormon-Ausschüttung sofort durch Bewegung - Angriff oder Flucht - beantwortet wurde. Wenn Bewegung fehlt, nimmt das Gefäßsystem Schaden. Denn jede Stresshormon-Ausschüttung, die nicht kontrolliert werden kann, schlägt eine Kerbe ins Blutgefäß, die nie wieder heilt."

Grundvoraussetzung für effektives Training ist aber, dass man im richtigen Puls trainiert - aerobes Training nennt man das. "Wer hechelt oder schnauft, macht etwas falsch! Bei Überanstrengung bekommt der Muskel nicht genug Sauerstoff. Die Folge: Der Milchsäurespiegel steigt, der Muskel übersäuert und anstatt Fett bedient sich der Körper aus dem Reservetank der Kohlehydrate: Es wird nur Zucker verbrannt. Trotz erheblicher Anstrengung war das Training umsonst", erklärt Strunz.

Und nicht nur das: "Zu viel oder falsch betriebene Bewegung schadet sogar", warnt Müller-Wohlfahrt. Der Sportmediziner wurde durch die plötzlichen Herztode und Krebserkrankungen vieler Spitzensportler auf das Phänomen der so genannten freien Radikale aufmerksam und widmete sich über Jahre hinweg eingehend diesem Thema. "Ursache vieler Erkrankungen sind die freien Radikale, die der Körper bei übermäßiger Anstrengung in etwa sechsfacher Menge produziert. Sie können Herz- und Gefäßkrankheiten, Krebs, Rheuma, Alzheimer und Arteriosklerose auslösen."

Ein freies Radikal ist ein instabiles Sauerstoffmolekül, das natürlicherweise im Stoffwechselprozess mitproduziert wird. "Da ihnen ein Elektron fehlt, sind diese Moleküle extrem reaktionsfreudig - man bezeichnet sie auch als aggressiv. Zu viele freie Radikale sind eine Bedrohung für Zellstruktur, Gewebe und Organe: Sie verbinden sich mit fast allen anderen Stoffen, deren Moleküle sie bei der Jagd nach dem fehlenden Elektron zerstören." Den wirksamsten Schutz vor diesen Aggressoren bieten bestimmte Vitamine und Mineralstoffe, allen voran die Vitamine C, E, Zink und Selen. Beim Laufen gehen vor allem Zink und Magnesium verloren. "Unbedingt nachfüllen", raten die Sportmediziner.

Grundsätzlich ist eine richtige Ernährung das zweite Standbein für Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. "Obst und fettarmes Eiweiß aus Fisch und mageren Milchprodukten sind natürliche Aufputschmittel für Körper und Geist", wirbt Strunz für die gesunde Küche. Wer statt Weißmehl Vollkornprodukte isst sowie Zucker und Fertiggerichte weglässt, tut sich selbst einen Gefallen: Denn diese Produkte haben einen hohen glykämischen Index - also einen hohen Zuckergehalt - und machen auf Dauer nicht nur dick, sondern auch müde und unkonzentriert. Wer in einer längeren Konferenz oder Verhandlung ständig am zuckrigen Kaffee nippt, merkt vielleicht, wie die Konzentration verloren geht. "Das liegt daran, dass der Blutzuckerspiegel Achterbahn fährt", so Strunz. "Zucker oder Weißmehlprodukte gelangen sehr schnell ins Blut und treiben den Blutzuckerspiegel hoch. Daraufhin schüttet der Körper eine große Menge Insulin aus, das den Blutzuckerspiegel sehr schnell wieder sinken lässt. Meist sogar unter den Ausgangswert. Die Folge: Wir werden noch müder und haben erneuten Heißhunger auf Süßes."

Marathon-Sprinter Kilburg weiß, dass gesunde Ernährung nicht nur im sportlichen Bereich für Höchstleistungen sorgt. Der Hotel-Manager, der seine Karriere ausgerechnet als Konditor begann, frühstückt deswegen Haferflocken und Orangensaft und isst tagsüber nur Äpfel oder Salat.

Wer auf so viel Disziplin verzichten will, kann durch weniger Fett und weniger Lebensmittel mit einem hohen glykämischen Index schon eine ganze Menge erreichen. Beispielsweise Konzentration und Leistungsfähigkeit bis zum Ende des Tages. Das hilft vielleicht in wichtigen Verhandlungen. Denken Sie daran: die Verträge werden am Schluss unterschrieben.

1. Gehirn - Es wird besser durchblutet und mit der doppelten Menge Sauerstoff versorgt. Das macht wach, erhöht Konzentration und Leistungsfähigkeit unserer Denkmaschine.

2. Neuronales Netz - Laufen hält das Gehirn jung: Fettablagerungen in den Zellen werden durch das beim Laufen ausgeschüttete Hormon ACTH abgelöst. Neue Datenautobahnen werden angelegt und die Verknüpfungen zwischen den Gehirnzellen nehmen laufend zu, anstatt ab.

3. Botenstoffe - Laufen schärft das Gedächtnis, toppt die Kreativität.

4. Bauchspeicheldrüse - Sie muss nicht mehr so viel vom Dickmacherhormon Insulin produzieren. Die Körperzellen werden empfindlicher gegenüber dem blutzuckersenkenden Insulin. Dadurch wird das Risiko an Alters-Diabetes zu erkranken, gemindert.

5. Hoden - Es wird mehr Testosteron produziert. Das macht potent und gibt mehr Power.

6. Muskeln - Die Funktion der Muskelzellen verbessert sich, die Durchblutung wird gesteigert.

7. Immunsystem - Die Anzahl der Killerzellen steigt massiv an. Die Kraft der Immunzellen, Bakterien, Viren und Krebszellen zu vernichten, nimmt zu.

8. Lunge - Die Lunge wird kräftiger. Belüftung und Durchblutung sind verbessert, der ganze Körper wird mit mehr Sauerstoff versorgt. Kohlendioxid wird über die Lungenbläschen schneller ausgeschieden.

9. Herz/Blutkreislauf - Das Herz wird kräftiger und bringt mehr Leistung. Der Ruhepuls sinkt.

Dadurch kann sich das Herz besser erholen und lebt länger. Das Blut wird flüssiger. Schlechte Blutfette sinken, das "gute" HDL-Cholesterin stiegt an, der Blutdruck normalisiert sich.

Marathonläufer Karl Kilburg

Karl Kilburg läuft jeden Morgen um 5:30 Uhr eine Stunde lang. Pro Jahr nimmt er an drei bis vier Marathons teil, und seine Laufschuhe fehlen auf keiner Geschäftsreise. Kilburg: "Eine fremde Stadt lernt man herrlich beim Laufen kennen. In Rom beispielsweise vom Hotel zum Kolosseum, dann zum Vatikan, ein paar Runden auf dem Petersplatz und zurück zum Hotel. Es gibt nichts Schöneres." Seine Ernährung: "Tagsüber gibt's Äpfel und Salat, abends esse ich ein normales Dinner: Alles, was angeboten wird, außer rotem Fleisch."

Tipps von Jürgen Weber

"Einen besseren ,Korrosionsschutz' als Jogging kann ich mir gegen zwölf und mehr Stunden sitzender Tätigkeit nicht vorstellen. Deshalb gehört es unverzichtbar zu meinem Tagesprogramm. Die Zeit dafür ist mir heilig, selbst auf Reisen. Der Mensch hat Beine, damit er auch einmal fliehen kann. Die Natur verlangt danach. Beim Jogging gewinne ich Weite - auch der Gedanken, Ideen und Einfälle. Belastendes werfe ich ab - ebenfalls in meinem Speiseplan: Obst, Brot und Wasser reichen tagsüber durchaus aus, um das Arbeitspensum mit klarem Kopf zu meistern. Abends darf es dann gehaltvoller sein - ein Glas guten Weins verachte ich dabei nicht. Ich bin zwar kein Fastenprediger: Aber ich mache es mir zur Regel, mich nach den Weihnachtstagen über mehrere Wochen einfach zu ernähren und auf Alkohol ganz zu verzichten. Auch das stellt eine Balance im Leben her."

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