Wissenschaft
Arzneimittel
Viel hilft nicht viel
Vitamine in Pillenform, warnen Mediziner, können Krankheiten nicht verhindern und in hoher Dosierung sogar schädlich sein. Bericht von Veronika Hackenbroch
Miller Quarles, Ölbaron aus dem
texanischen Houston, will ewig leben. 100.000 Dollar Preisgeld
hat er demjenigen Forscher versprochen, der für ihn Krankheit
und Tod besiegt. Bis es so weit ist, setzt Quarles wie Millionen
anderer vor allem auf eines: Vitamine in Höchstdosierung.
Täglich schluckt der 85-jährige Pillen und Pülverchen, in der
festen Überzeugung, sie könnten Krebs, Herzinfarkt, Alzheimer
und Parkinson noch einige Jahrzehnte von ihm fern halten.
Vergangene Woche allerdings blieb dem Gesundheitsfanatiker die
allmorgendliche Vitamindosis im Halse stecken: In ihrem jüngsten
Bericht stellten Mediziner der amerikanischen "National
Academy of Sciences" fest, bislang gebe es keine
ausreichenden Beweise dafür, daß hochdosierte Vitamine und
Spurenelemente in Pillenform tatsächlich Krankheiten verhindern
könnten. im Gegenteil: Hohe Dosen bestimmter Vitamine - darunter
Verkaufsschlager wie Vitamin C und E - könnten sogar schädlich
sein. Erstmals legten die US-Experten deshalb bei ihren
Dosierungsempfehlungen auch Obergrenzen für diese Substanzen
fest.
Der Bericht, für den fast
sämtliche medizinischen Studien der letzten zwei Jahre über die
Wirkung von Vitaminen ausgewertet wurden, könnte dem Geschäft
mit diesen Stoffen einen Dämpfer verpassen.
5,7 Milliarden Dollar gaben US-Amerikaner vergangenes Jahr für
Vitamine aus, in Deutschland waren es über eine Milliarde Mark -
unnötig zum Fenster hinausgeworfenes Geld.
Der aktuelle Bericht bestätigt, was Ernährungsexperten seit
langem behaupten: Regelmäßig Obst und Gemüse zu essen ist
immer noch der beste Schutz gegen Krebs und Herzinfarkt. Das
haben zahlreiche epidemiologische Studien in eindrucksvoller
Weise gezeigt.
Die Popularität von Vitaminpillen beruht für Pharma-Kritiker
wie Gerd Glaeske, der zu den Autoren des Gesundheitsratgebers
"Bittere Naturmedizin" gehört, vor allem auf einem
"kardinalen Denkfehler". Getreu dem Motto "viel
hilft viel", so Glaeske, werde aus dem positiven Effekt
gesunder Ernährung fälschlicherweise gefolgert, daß große
Mengen einzelner isolierter Inhaltsstoffe erst recht gesund
seien.
Daß Substanzen wie Vitamin C oder
E im Reagenzglas sogenannte freie Radikale abfangen können, die für die Entstehung von
Krebs, Herzinfarkt und andere Leiden verantwortlich gemacht
werden, läßt sich nach Meinung vieler Experten nicht ohne
weiteres auf den Menschen übertragen.
Erst das fein austarierte Zusammenwirken der verschiedenen
Vitamine und anderer Inhaltsstoffe führt zur positiven Wirkung
einer ausgewogenen Ernährung. "Allein in Pflanzen gibt es
etwa 10.000 verschiedene Substanzen, die den menschlichen Körper
beeinflußen", so Gerhard Jahreis,
Ernährungswissenschaftler an der Universität Jena. "Von
denen kennen wir gerade mal 4.000, und wie die alle zusammen in
der Nahrung wirken, haben wir überhaupt noch nicht im Detail
verstanden."
Die Mediziner der National Academy
of Sciences (wie auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung)
empfehlen deshalb nun, statt Pillen lieber fünfmal am Tag
kleinere Portionen Obst und Gemüse zu sich zu nehmen. Damit ist
nicht nur der Vitaminbedarf ausreichend gedeckt; auf diese Weise
lassen sich auch gefährliche Überdosierungen vermeiden.
Denn auch Vitamine mit ihrem heilenden Image, so fanden
Ernährungsforscher in jüngerer Zeit heraus, können durchaus zu
schweren Nebenwirkungen führen. Die amerikanischen Experten
empfehlen daher, auf keinen Fall über längere Zeit mehr als
2.000 Milligramm pro Tag einzunehmen; besser sei es, im Bereich
der empfohlenen Tagesdosis von um die 100 Milligramm zu bleiben
(entsprechend einer Kiwi täglich).
Zuviel Vitamin E wiederum kann die
Blutgerinnung hemmen (aktuelle Empfehlung der Academy of
Sciences: nicht mehr als 1.000 Milligramm pro Tag), Vitamin B6
und Selen (maximal 400 Milligramm pro Tag) können in hohen Dosen
zu Nervenschäden führen, Vitamin D zu Nierenversagen. Vitamin A
kann bei Föten Mißbildungen verursachen, und sein Vorläufer
Beta-Carotin, in den USA eines der meistverkauften
Nahrungsergänzungsstoffe überhaupt, erhöhte in mehreren
Studien das Lungenkrebsrisiko bei Rauchern so sehr, daß die
Versuche vorzeitig abgebrochen werden mußten.
"Der Mythos, daß Vitamine rundum positive
nebenwirkungsfreie Substanzen sind", so Glaeske, "muß
ausgeräumt werden". Doch das ist leicht gesagt. Denn die
"Vitamanie" (Glaeske) hat offensichtlich nicht nur
rationale Motive. "Die Leute kaufen die Vitamine auch aus
einem schlechten Gewissen heraus, weil sie immer wieder Pommes
und Bratwürstchen essen", sagt Monika Erdmann,
Pressereferentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.
Mit den Vitaminen verhält es sich ähnlich wie mit Abmagerungskuren. Den meisten Menschen ist durchaus bewußt, daß es eigentlich besser wäre, langfristig die Ernährung umzustellen, sie wählen aber trotzdem meist die schnelle Lösung aus der Apotheke. Erdmann: "Dann ist das Gewissen beruhigt, der Apotheker hat verdient - und alle sind zufrieden."
Abschrift des Original-Artikels aus DER SPIEGEL Nr. 16 vom 17.04.2000, S. 270-271
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